Die Korkmodelle von Antonio Chichi als Beitrag zur klassizistischen Architekten- und Ingenieursausbildung des 19. Jahrhundert

Ich begrüße Sie herzlich in diesem schönen Museum zu dem Vortrag über die Korkmodelle Antonio Chichis und ihre Bedeutung für die Architektenausbildung am Anfang des 19. Jhs.
Wir befinden uns hier im sogenannten Römischen Gang, durch den man zu den Räumen der Antikenabteilung gelangt. Geradeaus ging es früher zu dem Saal mit der umfangreichen Sammlung von Gipsmodellen antiker Skulpturen. Der Großteil der Skulpturen ist der Brandnacht zum Opfer gefallen. Heute wird der große Saal für Wechselausstellungen genutzt. Durch den Säulengang hier rechts gehen wir am antiken Bad Vilbeler Mosaik vorbei und gelangen in den Raum, der der Antikenrezeption gewidmet ist. Hier werden Zeugnisse der Auseinandersetzung mit der Antike gezeigt, vor allem die Korkmodelle Antonio Chichis.
Sie sehen, die Korkmodelle bilden die auch heute noch bekannten antiken Gebäude und Ruinen vornehmlich der Stadt Rom nach. Man erkennt den Konstantins Bogen, das Marcellustheater, die Konstantins Basilika und die Cestiuspyramide. Nur zwei Modelle bilden Bauten außerhalb Roms ab, den Rundtempel der Sibylle in Tivoli und das Emissar des Kanals am Albaner See. Letzterer ist ein technischer Funktionsbau. Es handelt sich um eine Schleusenkammer, die der Regulierung des Wasserspiegels des Albaner Sees dient. Sie wurde um 400 vor Christus erbaut und ist heute noch funktionsfähig.

Die Korkmodelle, die uns umgeben, stammen aus dem Jahrzehnt zwischen 1780 und 1790. Es ist die Zeit des Klassizismus, in der die antike Kultur als vorbildlich empfunden wurde. Man wollte von ihr lernen und angeregt werden, auf den verschiedensten Gebieten, auch in Architektur, Technik und Lebensweise, - nicht nur in Malerei, Bildhauerei und Literatur. Es war die Zeit Goethes, Schillers und Lessings. Es ist auch das Zeitalter der Aufklärung und der beginnenden Romantik.
Reisen nach Italien begannen für junge Adlige aus Nordeuropa verpflichtend zu werden. In Rom und in Neapel und auf Sizilien suchte man die unmittelbare Anschauung der antiken Kulturschätze. Man suchte auch das Erlebnis der südlichen Landschaft und Atmosphäre.
Dabei regte sich der Wunsch, reale Abbilder der bewunderten Kunstschätze mit nach Hause, „über die Alpen zu tragen“, damit auch diejenigen, die selbst nicht nach Italien reisen konnten, eine anschauliche Vorstellung von den Gegenständen gewinnen konnten. Gewiss, es gab die Romveduten und Stiche Piranesis. Aber diese werden von Modellen, dreidimensionalen Abbildern, an Anschaulichkeit weit übertroffen. Modelle täuschen die Präsenz und Wirklichkeit der Gebäude überwältigend vor.
Also wanden sich gebildete Italientouristen, vor allem Engländer, mit ihren Vorstellungen und Wünschen an geeignete Handwerker, um sie zum Bau von Modellen antiker Architektur anzuregen.
Als Material für die Miniaturnachbauten hatte man sich in Rom für Kork entschieden, der für diesen Zweck ideale Eigenschaften besitzt. Kork ist gut zu bearbeiten, elastisch und fest, wasserundurchlässig und resistent gegenüber Fäulnisbakterien. Mit Kork ließ sich der Ruinencharakter der Gebäude täuschen nachbilden. Kork ist vor allem leicht, - Korkmodelle waren leicht zu transportieren; Rom ließ sich so leicht über die Alpen tragen. Mit Modellen aus Holz oder Gips wäre nicht nur der Transport schwieriger gewesen. Kork wurde beim neapolitanischen Krippenbau verwendet. Von dort musste man nur die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten auf den Bau von Architekturmodellen übertragen.
Die ersten Korkmodellbauer gab es in Rom seit 1760. Man nannte sie Phelloplastiker. Der erfolgreichste und produktivste unter ihnen war Antonio Chichi (1743-1816). Chichi war ein Meister der Korkverarbeitung. Er arbeitete sehr genau, maßstabsgerecht und verblüffend wirklichkeitsnah. Allerdings baute er die Modelle nach wechselnden Maßstäben, so dass ihre Vergleichbarkeit  nicht mehr gegeben ist. -  Chichis Modelle bestehen fast vollständig aus Kork. Die Trägerplatte ist selbstverständlich aus Holz. Die Feinteile (Kapitelle und Reliefs) bestehen aus Gips oder Stuck. -  Chichi hat die Bauten nicht selbst vermessen, sondern die Maßangaben von anderen übernommen, z.B. von Piranesi. Chichi bezeichnet sich selbst als Architekt. 
Im Allgemeinen geben Chichis Modelle den aktuellen Zustand vor 1800 wieder. Für uns ist das interessant, weil die Gebäude im 19. Jh. freigelegt und von späteren Zutaten gereinigt wurden, so dass wir sie heute anders erleben als die Romreisenden vor 1800. Stellenweise versucht Chichi die Rekonstruktion des antiken Zustandes. Er verzichtet weitgehend auf die Wiedergabe des romantischen Verfallsambientes. So haben seine Modelle etwas Objektives und Dokumentarisches.
Chichi hatte sich eine Serie von 36 Modellen erarbeitet. Die komplette Serie ist noch dreimal erhalten, außer in Darmstadt noch in Kassel und St. Petersburg. Einzelne Chichi-Modelle gibt oder gab es in Gotha, Schwerin und Berlin, vor allem aber in Paris und London. Die  Aschaffenburger Modelle König Ludwigs I von Bayern sind Kopien der Darmstädter und Kasseler Chichimodelle.
Die Vermittlung der Modellserie nach Deutschland und nach St. Petersburg besorgten der baltische Hofrat Reiffenstein und der Leipziger Kunsthändler Rost.
Chichis Preise waren hoch: 168 Dukaten für das Kolosseum oder das Pantheon, 40 Dukaten für ein Durchschnittsmodell. Goethe konnte diese Preise nicht bezahlen. Er begnügte sich mit den Stichen Piranesis.
 

Der vergleichsweise arme Landgraf Ludwig X von Hessen-Darmstadt leistete sich die gesamte Serie. Sie war es ihm wert, weil sie in sein bildungspolitisches Programm passte. Ludwig war ein aufgeklärter absolutistischer Fürst, der die Bildung der Bevölkerung in seinem Herrschaftsgebiet fördern wollte, vor allem die Berufsbildung. So erhoffe er sich eine Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität.
Deshalb betrieb er den Aufbau eines Privatmuseums, das sich damals noch im Schloss befand und öffentlich zugänglich war. Die Korkmodellsammlung ist wohl die erste Sammlung gewesen, die er erworben hat. 1820 vermachte er seine inzwischen angewachsenen Sammlungen dem Großherzogtum Hessen. Ein Museum war für Ludwig eine Akademie, ein Ort des Wissens und Lernens. Landgraf Ludwig X vergab Rom-Stipendien an junge Künstler. 1810 engagierte er Georg Moller als Oberbaudirektor. Moller hatte bei dem Klassizisten Weinbrenner in Karlsruhe gelernt und war länger als zwei Jahre in Rom gewesen. Später baute er in Darmstadt u.a. das klassizistische Hoftheater und die Ludwigskirche, die „Runde Kirche“.
Dass die Darmstädter Architekturmodelle für die Ausbildung von Architekten eingesetzt worden wären, ist nicht belegbar, aber nach allem, was wir über Landgraf Ludwig X wissen, ist dies höchstwahrscheinlich. Von den antiken Architekturmodellen in Kassel und München weiß man, dass sie für das Architekturstudium eingesetzt wurden und entsprechend aufgestellt waren. Auch in London und Paris ist eine solche Verwendung der Korkmodelle als Studienobjekte belegt.
Über die Verwendung der Modelle im Architekturstudium kann man nur spekulieren. Die Modelle bilden eine willkommene Illustration zum Architekturhandbuch von Vitruv (De architectura), das nachweislich noch im 19. Jh. benutzt wurde und aus der Zeit des Augustus stammt.  An Chichis Modellen lassen sich Studien zu Proportion, zu Konstruktion, zu Bogen- und Gewölbetechnik und zur Fassadengliederung und Funktionalität durchführen. Auch eine historische Betrachtung zu den Arten antiker Tempel ist anhand de Chichi-Modelle gut möglich.

Das Kolosseum
Das Kolosseum ist die bekannteste Ruine Roms und eine der größten. Sie ist noch zur Hälfte erhalten.
Im Norden steht noch die ganze Fassade. Sie besteht aus drei Geschossen mit je 80 Arkaden und einem Attika-Geschoss. Sie ist durch unterschiedliche Halbsäulen gegliedert: tuskanische im 1. Geschoss, jonische im 2. und korinthische im 3. Geschoss. Diese Abfolge der Säulenordnung wurde für die spätere Zeit kanonisch. Das Attika-Geschoss ist durch Pilaster mit korinthischen Kapitellen gegliedert. Die Fassade ist nahezu 50 m hoch. Das Mauerwerk besteht aus gewaltigen Travertinblöcken, die mit Eisenklammern verbunden waren. Die Eisenklammern waren in Blei eingegossen, damit sie nicht rosteten. -  Alle 80 Arkadenbögen des Erdgeschosses dienten als Eingänge. Im Norden befand sich der prunkvolle Eingang für den Kaiser. Über Treppen und Rampen gelangten die Zuschauer zu ihren Plätzen. So ließ sich das Kolosseum in sehr kurzer Zeit füllen und leeren. Der Eintritt zu den Spielen war kostenlos. Auf der Eintrittsmarke, tessera, war die Nummer des Eintrittsbogens vermerkt.

Die Zerstörung des äußeren Mauerrings auf der Südseite macht das Innere des Gebäudes mit seiner Konstruktion sichtbar. Die Arena ist von fünf konzentrischen Gängen umgeben. Diese sind von Tonnengewölben überwölbt, die auf mächtigen Travertinpfeilern ruhen. Die Pfeiler sind durch radial verlaufende Ziegelmauern verbunden. Über den Tonnengewölben liegt die Schräge mit den Stufen der Sitzreihen. Es gab 5 Ränge, - die beiden ersten Ränge waren den Senatoren, hohen Beamten, Priestern und Ehrengästen vorbehalten.
Im 3. Rang sassen die Ritter, - im 4. Rang das übrige Volk. Frauen hatten die schlechtesten Plätze im 5. Rang, der aus Holz bestand. -  Der Zuschauerraum fasste 50 000 Zuschauer oder nach einer anderen berchnungsgrundlage 73 000. Ein Dach gab es bei diesen riesigen Dimensionen nicht. Es konnte jedoch ein Sonnensegel aufgezogen werden. Damit war eine ganze Kompanie von Matrosen aus dem Marinestützpunkt Misenum beauftragt.
Chichi hat in einem Segment die Zuschauerreihen rekonstruiert.
Der Arenaboden bestand aus Brettern, darunter befand sich ein Untergeschoss, das die ganze Infrastruktur für die Spiele enthielt (Tierkäfige, Aufzüge, Kulissen). Diese Substruktionen liegen heute offen.
Das Kolosseum war eine Arena für Tierhetzen (venationes) und Gladiatorenspiele (munera gladiatoria).

Das Pantheon
Das Pantheon ist ein Rundtempel. Dadurch unterscheidet es sich von fast allen anderen Tempeln in Rom, bei denen es sich um Rechtecktempel handelt, die auf einem hohen Podium stehen. Die wenigen Rundtempel in Rom sind verhältnismäßig klein und von einem Säulenkranz umgeben, z.B. der Herkulestempel an der Piazza Bocca della Verità oder der Vestatempel auf dem Forum Romanum.
Das Pantheon besteht aus einem Zylinder und einer Halbkugel, die teilweise im Zylinder versenkt ist, so dass man sie von aussen nur als flache Kalotte („Käppchen“) wahrnimmt.
Das Pantheon zeichnet sich durch ideale Harmonie der Massverhältnisse aus: der Durchmesser des Grundrisses entspricht der Höhe des gesamten Raumes (43,5 m). Die Höhe der Halbkugel entspricht der Höhe der Zylinderwände (21,75 m). Ergänzt man die Halbkugel zu einer Kugel, würde diese den Fußboden berühren.
Der Innenraum des Pantheons ist also eine Kugel. In seiner Harmonie ist das Pantheon ein Abbild der Vollkommenheit des Kosmos. Die Kassettendecke steht für den Himmel. Sie war einst blau und mit goldenen Sternen übersät. An der höchsten Stelle des Raumes befindet sich eine Öffnung, das Opaion, von etwa 9m Durchmesser. Allein durch diese und durch die Türöffnung wird der Innenraum belichtet; es gibt keine Fenster.
Die Kuppel besteht aus Gussmauerwerk, einer Art Zement, und wurde über einer riesigen Holzverschalung in einem Stück gegossen. Nach oben hin nimmt sie an Dicke und Schwere ab. Die 6m breite Außenmauer ist nicht massiv, sondern ist von mehreren Ziegelgewölben und Entlastungsbögen durchbrochen,    die den Druck der Kuppel abfangen.
Das Pantheon ist das am besten erhaltene antike Gebäude in Rom. Viele Teile befinden sich noch im Originalzustand, z.B. der Marmorfussboden und die untere Hälfte der Wand. An der Kassettendecke fehlt nur die Farbe.
Es ist unklar, welchem Götterkult das Pantheon diente. Pantheon bedeutet: Für alle Götter. Wahrscheinlich sind damit die Götter des Herrscherhauses gemeint, die einst im Pantheon verehrt wurden. Dazu zählten auch die Planetengötter Mars und Venus. Auch Caesar und Augustus waren nach ihrem Tod zu Göttern aufgestiegen. -  609 nach Chr. wurde das Pantheon in die Kirche „Sancta Maria ad Martyres“ umgewandelt. Es dient auch als Grabeskirche, z.B. für Raffael.
Das Pantheon ist das Urvorbild für alle Kuppelkirchen, z.B. den Dom von Florenz, die Peterskirche in Rom, die Hagia Sophia in Konstantinopel und auch für die Ludwigskirche in Darmstadt.
Die Auseinandersetzung Michelangelos mit der Kuppel des Pantheons führte zur Konstruktion der Kuppel der Peterskirche. Aus Respekt vor dem bewunderten unbekannten Baumeister des Pantheons blieb Michelangelo dabei aber 50cm unter dem Durchmesser der Kuppel des Pantheons.

Dr. Hans Lentz, Darmstadt

 
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